Dienstag, 13. November 2018

Beziehungsstatus: Es ist kompliziert




Liebe SPD,

vor acht Jahren sind wir bei Dir eingetreten, weil du für uns – gerade mit Blick auf Deine Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität – das Versprechen warst, dass jede und jeder aus dem eigenen Leben etwas machen kann. Leider können wir dieses Versprechen seit Jahren – vor allem im letzten Jahr – nicht mehr erkennen. Wir stellen uns die Frage, ob Du noch unsere Partei bist.

Wie sind wir an diesen Punkt gelangt? Uns fehlt der rote Faden in der politischen Arbeit der SPD. Es gibt keine Vision, die mit Deiner Politik verfolgt wird. Zu viele zentrale Fragen sind offen.

Für wen machen wir Politik? Wer ist unsere Zielgruppe?
Wie soll Bildung im 21. Jahrhundert aussehen?
Was bedeutet für uns Arbeit im 21. Jahrhundert?
Wie gehen wir mit der Digitalisierung um?
Wie gehen wir mit rechten Tendenzen in unserer Gesellschaft um? Tragen wir jede Asylrechtsverschärfung mit, die uns die Union in der Großen Koalition diktiert, weil sie vor der AfD einknickt und behaupten dann in Sonntagsreden, wir wären das Bollwerk gegen rechts? Oder sollten wir nicht viel eher echte Haltung zeigen, indem wir Politik mit Haltung machen?
Was ist unsere Vision von Europa? Wollen wir, dass die Politik der EU weiter von nationalen Regierungen dominiert wird, oder sollten wir uns nicht viel eher für ein Europa der Bürgerinnen und Bürger und das Ende des Demokratiedefizits einsetzen?

Wirklich kompliziert wird es in unserer Beziehung aber, wenn es um den Umgang mit den katastrophalen Wahlergebnisse der letzten Jahre geht. Schlechten Ergebnissen folgen keine personellen und inhaltlichen Konsequenzen. Niemand übernimmt Verantwortung für Wahlergebnisse. Kein Mitglied in wichtiger Funktion hat den Mut, öffentlich auf neue Gesichter und Ideen zu setzen und innerparteiliche Veränderungen zu fordern. Alle kleben an ihren Stühlen, aber verstehen nicht, dass es diese Stühle ohne etwas Neues bald nicht mehr geben wird. Alle setzen darauf, dass die Wählerinnen und Wähler von alleine wiederkommen, ohne dass man selbst etwas dafür verändert, obwohl das seit Jahren offensichtlich nicht funktioniert.

Statt sich inhaltlich und personell neu aufzustellen, wird die Regierungsarbeit in der Großen Koalition über E-Mails an die Mitglieder und Social Media ständig als größter Erfolg präsentiert, obwohl die Ergebnisse eigentlich nur kleinste gemeinsame Nenner mit der Union sind. Andererseits bekommt man nach wichtigen Wahlen wie in Hessen keinerlei Informationen.

Für uns ist klar: Ohne Vision vom großen Ganzen bringt es nichts, nach jeder verlorenen Wahl zu fordern, die SPD müsse jetzt zur Sachpolitik zurückkehren. Die SPD muss sich selbst klarmachen, wofür und für wen sie Politik macht. Das muss besser heute als morgen geschehen. Ansonsten wird diese Partei – auch mit Blick auf unsere europäischen Schwesterparteien – bald keine Rolle mehr spielen. Es gibt keine Garantie auf einen Platz im Parteiensystem, nur weil wir die älteste Partei Deutschlands sind.

Wenn Du, liebe SPD, wieder eine Vision entwickelst und diese auch personell verkörperst (also frische Gesichter an Deine Spitze wählst, die nicht mit Schröder oder der GroKo in Verbindung gebracht werden), kannst und wirst Du Glaubwürdigkeit zurückgewinnen, die Menschen wieder von Dir überzeugen und Mehrheiten für Dich erringen. Dabei solltest Du auch darauf verzichten, ständig Willy Brandt oder Otto Wels zu zitieren. Wir brauchen heute Politik für die Zukunft, nicht die Zukunftspolitik von früher.

Wenn das gelingt, sind wir davon überzeugt, dass Du auch wieder unsere Partei werden kannst.

Bettina und Jonas

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Über die Autoren:

Bettina Lanio (26) studiert Förderschullehramt, führte vier Jahre lang die Jusos Main-Taunus als Vorsitzende und war im Bezirksvorstand der Jusos Hessen-Süd. Heute ist sie einfaches Basismitglied der SPD.
Jonas Tresbach (26) studiert Kommunikationswissenschaft im Master, ist Stadtverordneter der Kreisstadt Hofheim am Taunus und war stellvertretender Vorsitzender der SPD Main-Taunus. Gemeinsam mit Bettina Lanio war er drei Jahre Vorsitzender der Jusos Main-Taunus.

Dienstag, 14. August 2018

Rassismus-Debatte: Leserbrief zum Vorwort der aktuellen Ausgabe der "Fan geht vor"

Seit einiger Zeit lese ich regelmäßig die 1. Frankfurter Allgemeine Fanzeitung "Fan geht vor" und freue mich bei Heimspielen der Eintracht jedes Mal die neueste Ausgabe zu erstehen. Im Vorwort der aktuellsten Ausgabe hat mir ein Absatz jedoch sehr zu schaffen gemacht, deshalb habe ich einen Leserbrief an die Redaktion geschickt.

Der entsprechende Auszug aus dem Vorwort der Fgv aus August/September 2018

Lieber Jörg,

zunächst will ich die Chance nutzen und die FGV-Redaktion zur vorliegenden Doppelausgabe beglückwünschen. Das Fotoalbum sowie die Erfahrungsberichte zum Pokalsieg sind hervorragend und haben mir viele schöne Erinnerungen an diesen unvergesslichen 19. Mai 2018 mit auf den Weg gegeben.

Ich schreibe diesen Leserbrief jedoch aus einem anderen Grund, denn ein Teil Deines Vorworts ist mir durchaus sauer aufgestoßen. Dort wird Mesut Özils Verhalten auf eine Art und Weise gebrandmarkt, die mir entschieden zu weit geht. Ja, es war ein Fehler, sich mit Erdogan kurz vor der türkischen Präsidentschaftswahl ablichten zu lassen. Ja, es war vermutlich ein Fehler, öffentlich lange nichts zu diesem Foto zu sagen. Aber nein, Mesut Özil ist nicht der Hauptgrund, warum das DFB-Team in der Vorrunde ausgeschieden ist, auch wenn Bierhoff und insbesondere Grindel im Nachhinein versucht haben diese Falschannahme zu etablieren und damit offensichtlich auch bei Dir Erfolg hatten. Unser unvergessener norwegischer Siegtorschütze von 1999 Jan Aage Fjörtoft nannte diese Schuldzuweisungen von Seiten des DFB im Übrigen „erbärmlich“ – und das zurecht.

Ganz besonders geärgert habe ich mich über deine Aussage, Mesut Özil suggeriere einen „Rassismus in Deutschland allgemein sowie speziell im Fußballverband, der so definitiv nicht vorhanden ist, wodurch er Hass und Hetze sowie politischer Ausnutzung wieder eine Plattform bereitet hat“. Die Pauschalität dieser Aussage ärgert mich ernsthaft. Für mich ist es Rassismus, wenn ein Spieler aufgrund eines Fotos von allen Seiten aufs Übelste beleidigt wird. Für mich ist es Rassismus, wenn ein DFB-Präsident, Mesut die Schuld gibt, dass Thomas, Timo und Manuel eine schlechte WM gespielt haben. So wird Integration nicht funktionieren. Richtig wäre es gewesen, wenn sich die deutsche Nationalelf hinter Özil gestellt hätte – so wie es die schwedische Nationalmannschaft vorgemacht hat – und diese ganze unsägliche Rassismus-Debatte klar und eindeutig verurteilt hätte. Doch passiert ist leider nichts. Dass Özil einen solchen Rassismus zurecht anprangert, zeigen außerdem sowohl die #MeTwo-Debatte auf Twitter, bei der viele Betroffene von ihren Erfahrungen berichten, als auch Romelu Lukakus Erzählung aus seiner Kindheit und Jugend („Wenn ich gut spielte, nannten sie mich ‚Lukaku, den belgischen Stürmer‘. Wenn ich schlecht spielte, nannten sie mich ‚Lukaku, den belgischen Stürmer kongolesischer Abstammung‘.“). 

Özil hat mit seinen Aussagen nicht Hass und Hetze eine Plattform bereitet, sondern eine Debatte angestoßen, die wir in Deutschland viel zu lange nicht geführt haben und nun – fernab von Fotos mit Erdogan – endlich führen sollten.

Viele Grüße
Jonas

Donnerstag, 18. Mai 2017

Mein Zeit in Tenkodogo: Ein Rückblick vier Monate danach

Paul und Abbé Denis verabschieden mich vor meiner Abreise aus Tenkodogo.
Es mag anders aussehen, aber ein wirklich trauriger Moment.

Schon über vier Monate ist es jetzt her, dass ich aus Tenkodogo in Burkina Faso wiedergekommen bin und natürlich hat mich der Alltag hier mittlerweile wieder voll im Griff. Trotzdem oder grade deshalb will ich in diesem letzten Blogeintrag zu meinem Aufenthalt in Afrika zum einen über meine letzte Woche in Afrika, die ich euch bisher noch schuldig geblieben bin, berichten. Insbesondere will ich zum Anderen aber versuchen, meine Zeit in Afrika mit etwas Abstand zu bewerten. 

Da es wenig sinnvoll ist, vier Monate später alle Erlebnisse der letzten Woche in Afrika bis ins Detail zu beschreiben, möchte ich die wichtigsten Momente meiner achten Woche in Burkina anhand von Fotos - verteilt über den gesamten Blogbeitrag - darstellen. Bilder sagen ja sowieso mehr als Tausend Worte, wie es so schön heißt. 

Ein Radrennen in Tenkodogo mit vielen Zuschauerinnen und Zuschauern

Doch nun zur Frage, was mir meine Zeit in Tenkodogo eigentlich gebracht hat. Zunächst einmal war es eine großartige Erfahrung, die spannendste in meinem Leben. Ich weiß, sowas kann nicht jede_r erleben. Ich bin sowohl der Friedrich-Ebert-Stiftung, als auch dem Freundeskreis Hofheim-Tenkodogo e.V. sehr dankbar, dass sie mir die Möglichkeit dazu gegeben haben.


Mit Pauls und Denises Kindern beim Tô-Kochen

Ich habe Burkina als eine komplett andere Welt erlebt. Man braucht sich nicht einmal sechs Stunden in ein Flugzeug zu setzen und schon sieht man, wie Menschen auch leben, ganz anders als wir in Mitteleuropa. Nicht mehr vergessen werde ich z.B. die Kuhherde, die von Kindern direkt nach unserer Ankunft in Ouagadougou über die Straße geführt wurde. Aber auch die kleinen Lehmhütten am Straßenrand auf dem Land, in denen ganze Familien ohne Strom, Wasser und alles leben, was wir in Deutschland als normal und einfach gegeben ansehen. Ich bewundere die Burkinabé. Sie sind Überlebenskünstler_innen und lachen dabei, wann immer es geht.

In Deutschland hört man oft das Vorurteil: „Die Afrikaner sind faul.“ Durch mein Praktikum bei OCADES Caritas in Tenkodogo konnte ich die Arbeitsroutinen und –weisen der Menschen in Burkina Faso kennenlernen und hautnah miterleben. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass dieses Vorurteil falsch ist. Arbeitsbeginn war jeden Morgen um 7 Uhr und es wurde bis abends geschafft. Klar, für mich gab es nicht immer etwas zu tun, aber das ist bei Praktika in Deutschland sicherlich auch manchmal so. Wichtig ist, dass ich immer wieder mit anpacken konnte und das Gefühl hatte, gebraucht zu werden, z.B. habe ich den Vertrag zwischen dem Freundeskreis und Caritas übersetzt. 


Abschied von meinen Kolleg_innen in der inklusiven Grundschule

Auch meine Woche in der inklusiven Grundschule St. Vincent de Paul für sehbinderte Kinder war eine Erfahrung, die ich nicht missen möchte. Dort wurde nicht wie bei uns ewig lange über inklusive Bildung geredet, sondern einfach damit angefangen, auch wenn nicht alles direkt geklappt hat. Wir sollten uns vom burkinischen Pragmatismus ruhig mal eine Scheibe abschneiden. In jeder Klasse waren 65 Kinder. Das ist in Burkina normal. Und wir regen uns in Deutschland über 30 Schüler_innen auf? 


Der Pfarrer der Gemeinde, in der ich lebte, und ich

Insgesamt bin ich bei Caritas, in der Schule und in der Gemeinde, wo mein Zimmer war, extrem freundlich aufgenommen worden (habe bspw. kostenlos ein Moped zur Verfügung gehabt) und konnte immer jemanden mit einem offenen Ohr finden.

Zur Sprache muss hier natürlich aber auch kommen, dass die zwei Monate nicht immer einfach waren. Es ist schon eine Herausforderung, als Mitteleuropäer in einem der ärmsten Länder Welt zwei Monate lang zu leben. Man wird ständig als „der Weiße“ wahrgenommen und fühlt sich teilweise auch beobachtet, weil man weit und breit der einzige Weiße ist. Das ist von Seiten der Burkinabé überhaupt nicht böse gemeint, fühlt sich aber dennoch manchmal etwas komisch an. Trotzdem bin ich froh, diese Erfahrung gemacht zu haben. Ich denke, es muss für Menschen, die nicht weiß sind, in Deutschland unheimlich schwierig sein – grade in der heutigen Zeit, in der sich die politische Debatte immer weiter auflädt.


Am letzten Abend mit Denise und Paul

Natürlich gab es auch Zeiten, in denen ich mir gewünscht habe, sofort wieder in Deutschland zu sein und am Ende war ich natürlich auch sehr froh, wieder daheim zu sein, wieder unser Essen zu genießen (und sei es ein Käsebrot). Ich denke, man lernt durch solche Erfahrungen viel mehr zu schätzen, was man davor als normal angesehen hat. Die Wertschätzung für die einfachen Dinge des Lebens steigt enorm.  


Abschied von Sinaré in Ouaga

Dank Paul und seiner Frau hatte ich zudem die einmalige Möglichkeit, das Leben in einer burkinischen Familie kennenzulernen. Es war großartig zu sehen, wie die drei Kinder (was noch ziemlich wenig ist im Vergleich) lachen und spielen – genau wie bei uns. Anders ist aber, dass die Kinder auf einer Bastmatte, die jeden Abend im Wohnzimmer ausgerollt wird, schlafen. Nicht in Betten oder sogar in eigenen Zimmern. In Erinnerung ist mir auch geblieben, dass ausschließlich Denise, Pauls Ehefrau, gemeinsam mit dem Kindermädchen für den Haushalt zuständig war. Sie haben gekocht, gewaschen usw. Es gibt in Burkina noch viel strengere Rollenbilder als bei uns. Mir fiel es schwer, das zu akzeptieren und nicht selbst auch zu helfen, z.B. beim Tischdecken. Zudem lebte Pauls Bruder, der grade mitten im Abitur war, auch mit im Haus. Ich denke, das Unterstützen von Familienangehörigen ist in Burkina normal, denn soziale Absicherung durch den Staat gibt es nicht. Das heißt auch, dass Menschen, die Geld verdienen, teilweise nicht nur ihre eigenen Familie ernähren müssen, sondern auch Cousins und Cousinen, Großeltern und so weiter.


auf dem Moped in der Hauptstadt der Mopeds Ouaga

Alles in allem bin ich den Menschen, die mich in Tenkodogo so wunderbar empfangen und sich so großartig um mich gekümmert haben, unsagbar dankbar. 

Paul, der abends jeden Tag mit mir Essen war, mir das Mopedfahren beigebracht hat, mich nach meinem Mopedunfall verarztet hat und mit dem ich mich wunderbar austauschen konnte – über Deutschland, Burkina, Politik und vieles mehr.

Denise, die für mich kochte, meine Wäsche wusch, ohne etwas dafür zu wollen. Einfach so.


Louis, der immer bereit war, sich mit mir auf ein Bier zu treffen, der von einem Fußballinternat in Tenkodogo träumt und der als Stadtverordneter in Tenkodogo ein Kollege von mir ist.

Sinaré, der mit mir Schuhe kaufen war und mich von Tenkodogo nach Ouaga gebracht hat.


Meine Kollegen Monsieur l’Abbé Dénis, Abbé Lucien, Martine, Bayala, M. Sina und Lazare, die dieses Praktikum unvergesslich gemacht haben.


Die Kathedrale von Ouagadougou am Tag der Taufe von Erics Tocher

Ein paar Mopeds neben der Kathedrale

Ich war nie alleine, wusste immer jemanden, zu dem ich gehen konnte. Das war ungemein wichtig. All diese Menschen, mit denen ich auch heute noch regen Kontakt habe, aber auch das Lächeln, die Freude und Dankbarkeit der Menschen auf den Dörfern, als unsere Delegation kam, um zu helfen, haben mir gezeigt, dass es sich ungemein lohnt, sich für besseres Leben in Burkina Faso und eine gerechtere Verteilung von Wohlstand in der Welt einzusetzen. Diesen Menschen geht es so schlecht, weil es uns so gut geht.


Stolze Eltern mit dem Taufkind

Anstehen für die Taufe

Ich möchte mich deshalb weiter beim Freundeskreis Hofheim-Tenkodogo engagieren, denn er leistet wirklich hervorragende Arbeit in Tenkodogo. Jeder gespendete Euro fließt direkt in wunderbare Projekte – Brunnen, Schulgebäude, Krankenstationen usw. – und nicht in dicke Autos von großen Hilfsorganisationen, über die ich mich des öfteren aufgeregt habe.

Deshalb werde ich in den nächsten Monaten hier in Deutschland in einigen Vorträgen von meinen Erfahrungen berichten, um die Menschen für das Thema zu sensibilisieren. Vielleicht findet sich dabei ja noch jemand, der für den Verein ein Praktikum in Tenkodogo machen will.


Aristide und ich kurz vor dem Abflug

Das würde mich freuen, denn insbesondere die Abiturient_innen, mit denen ich meinen Workshop durchführte, haben mir verdeutlicht, wie richtig es für mich war, dieses Abenteuer Burkina Faso zu wagen. Die Welt ist klein und wir sind groß. Treffender als dieses Zitat von Mark Forster lässt sich mein Aufenthalt wohl nicht beschreiben und immer, wenn dieser Song im Radio läuft, erinnere ich mich mit feuchten Augen an meine Zeit in Afrika.

Es waren die Menschen, die diesen Aufenthalt zu dem gemacht haben, was er war. Liebes Burkina, ich komme wieder! Cher Burkina Faso, un jour je reviendrai!


Letztes Foto mit Louis und Eric,
die mich zum Flughafen gebracht haben


Montag, 12. Dezember 2016

Die siebte Woche: St. Vincent de Paul, Workshop und Ausflüge

Mein bisheriges Highlight in Burkina:
Workshop am Lycée municipal
Bonjour, ihr lieben Leser_innen! Schon wieder ist eine abwechslungsreiche Woche rum. Ich habe viel erlebt und gelernt. Wie immer möchte ich euch die Tage einzeln vorstellen. Viel Spaß beim Lesen!

Montag, 5. November: Heute begann mein Praktikum (mon stage) in der Grundschule St. Vincent de Paul, die auch von der katholischen Kirchengemeinde in Tenkodogo betrieben wird. Zu Beginn sprach ich mit meinem Chef, Abbé Lucien, der mir verriet, dass es insgesamt zehn Klassen gibt. Davon sind sechs Regelschulklassen und vier auf die Regelschule vorbereitende Klassen für sehbehinderte Kinder. Insgesamt werden 395 Kinder unterrichtet, pro Regelschulklasse sind das ungefähr 65 Kinder. Ich erfuhr zudem, dass die Unterrichtszeiten von 7.30 Uhr bis 12 und 15 bis 17 Uhr sind. Die  Mittagspause dauert also drei Stunden, was mir sehr gut tat, da mir die Pause bei OCADES in den Wochen zuvor (1 Stunde) immer zu kurz war. Wir begannen mein Praktikum mit einer Vorstellung in allen Klassen. Ich stellte mich den Schüler_innen und Lehrer_innen vor und merkte schnell, dass ich mich hier sehr wohl fühlen würde. Die Kinder freuten sich sehr auf die gemeinsame Zeit.

Die CP1 lernt den Unterschied zwischen
"Chambre" und "Veranda"
Dann begann ich meinen Einsatz in der CP1 (so heißt hier die erste Klasse) für Kinder mit Sehbehinderung. Die acht Kinder in der CP1 sind seit Oktober in der Schule und stehen somit noch ganz am Anfang. Es gibt einen Lehrer, der ebenfalls blind ist und eine Lehrerin, die keine Beeinträchtigung hat. Vormittags sollten die Kinder zunächst das „E“ der Braille-Schrift schreiben. Das ist der Grundbuchstabe. Ich versuchte mich auch mal daran und merkte schnell, dass die Schrift alles andere als einfach ist. Danach lernten die Kinder, wie man mit dem Blindenstock geht. Das Lernen in der ersten Klasse ist insgesamt sehr spielerisch und das Leistungsgefälle der Schüler_innen sehr hoch. Während einige schnell lernen, sind manche durch weitere Beeinträchtigungen sehr langsam. Das macht es für die Lehrerin und den Lehrer ziemlich schwer.

Die CP2 liest im Braille-Textbuch
Dienstag, 6. November: Den heutigen Tag verbrachte ich wieder in der CP1. Nach dem für alle Kinder obligatorischen Gebet machten die Kinder mit den Lehrern draußen ein bisschen Sport. Danach waren wir mit den Kindern in der Schule unterwegs, um ihnen die Namen der verschiedenen Räume in einem Haus nicht nur zu erklären sondern direkt erfahrbar zu machen.

Um 10 Uhr musste ich dann kurz in die Stadt, wo ich gemeinsam mit Paul für unseren Verein Freundeskreis Hofheim-Tenkodogo ein Gespräch mit unserem Ansprechpartner der Stadt Tenkodogo, Issa Naré, führte. Dabei ging es um unsere Projekte in der Zukunft, z.B. den Bau der Grundschulerweiterung in Goursampa.

Nachmittags kehrte ich zurück in die Schule, wo wir mit den Kindern die Namen der Räume in einem Haus wiederholten. Außerdem durfte ich mich zum ersten Mal als Lehrer probieren. Ich leitete die Einheiten „Ecriture“ (Schreiben) und „le trie“ (das Trennen). Beim trie wird den Kindern eine Getreidemischung gegeben und sie müssen mit ihren Fingern die kleinen Hirsekörner herausfiltern. Das macht man, um sie für das Lesen der sehr diffizilen Braille-Schrift zu sensibilisieren.

Die CP2 beim Sport
Mittwoch, 7. November: Heute habe ich mir die CP2, also die zweite Klasse, für Kinder mit Sehbehinderung angeschaut. Zu Beginn der ersten Stunde war die Lehrerin einfach mal ohne etwas zu sagen, eine Dreiviertelstunde weg und ich versuchte – so gut es ging – die Kinder zu beschäftigen. Ich habe mit ihnen im Lesebuch gelesen, das hat gut funktioniert. Als die Lehrerin dann wiederkam, stand eine Klassenarbeit auf dem Programm, die aus einem Diktat und Rechnen bestand. Die Lehrerin erklärte mir, dass das die gleiche Klausur sei, die auch die CP2 der Regelschule schreibt. Sehr bemerkenswert! Nach der Klausur wurde ein Feldbett geholt und die Kinder lernten die unterschiedlichen Bezeichnungen für Schlafplätze. Bett, Teppich (ja, die Kinder schlafen hier auf dünnen Bast-Teppichen) usw. Dann war es irgendwann Mittag und ich erfuhr, dass der Mittwochnachmittag immer frei sei – Hurra!

Die Schule bei Sonnenuntergang
Donnerstag, 8. Dezember: Den Vormittag verbrachte ich wieder in der CP2. Der Tag wurde begonnen mit etwas Sport. Dann kamen Verantwortliche des Staates Burkina Faso, die eine neue Lernmethode für Kinder mit Sehbehinderung ausprobierten. Ich habe nichts von der Durchführung verstanden, da kann ich euch leider nicht viel mehr zu sagen. In der Nachbesprechung kam aber raus, dass die Methode gut funktioniert hat.😀 Was mir schon häufiger aufgefallen war, zeigte sich auch hier: Auch Personen in höheren Stellungen rülpsen und spucken, wie es ihnen beliebt. Für unsere Verhältnisse eine echte Unart.

In der Mittagspause traf ich meine Kollegen von OCADES. Zusammen waren wir beim Schneider und haben meine Maße nehmen lassen. Die Schwestern aus dem Niger hatten mir in der letzten Woche nämlich Stoff dagelassen und Abbé Denis lässt mir als Geschenk daraus jetzt ein Hemd und eine Hose schneidern.

Plastikmüll auf der Straße wird nicht entsorgt, sondern
verbrannt. Das sieht man hier überall. Grüße gehen raus
an die Gesundheit der Kinder, die den Dampf einatmen.

Nachmittags war ich dann in der CE1 für Kinder mit Sehbinderung, also der dritten Klasse. Hier war bereits ein großer Unterschied zur CP2 zu erkennen. Die Kinder hatten im vergangen Jahr augenscheinlich viel gelernt. Mittlerweile können sie Braille fehlerfrei und fließend lesen und schreiben. Wie in der CP2 mussten die Kinder auch hier eine Prüfung machen, in den Bereichen Lesen und Singen.

Nach der Schule war ich bei Louis und seiner Familie und habe gelernt, wie man Bissap herstellt. Das ist ein süßes Getränk aus Sauerampfer. Es ist einfach herzustellen und schmeckt lecker. Bringe ich mit nach Deutschland!

Abends war ich dann mit Paul essen. Es stellte sich heraus, dass alle Schulen in der kommenden Woche bestreikt werden. Deshalb mussten wir kurzerhand unsere Besuche in den Schulen in Goursampa und Gourgou für den Verein und meinen Workshop in Pauls Deutschunterricht auf den Freitag vorziehen. Deshalb hatte ich noch den ganzen Abend mit der Vorbereitung der Treffen und des Workshops zu tun.

Brunnen von Goursampa. Im Hintergrund der Schulgarten.
Freitag, 9. November: Paul und ich starteten am frühen Morgen mit seinem Moped nach Goursampa. Wir trafen uns dort mit dem Schulleiter und schauten uns die Projekte des Freundeskreises an. Alles läuft soweit gut: Der Garten blüht, der Brunnen funktioniert einwandfrei. Leider kann in der Kantine derzeit nicht gekocht werden, da der Staat keine Lebensmittel liefert, obwohl er das seit knapp drei Monaten versprochen hat. Unfassbar. Die Kinder müssen deshalb dann zum Mittagessen heimgehen und kommen dann müde und mit Verspätung zum Nachmittagsunterricht.

Nach unserem Ausflug nach Goursampa kehrten wir nach Tenkodogo zurück und fuhren zum Lycée municipal, also dem städtischen Gymnasium. Dort leitete ich dann im Deutschunterricht des Abi-Jahrgangs (la terminale) meinen Workshop. Zunächst lasen und übersetzten wir zusammen den Text von „Wir sind groß“ von Mark Forster. Dann hörten wir das Lied und ich brachte ihnen den Refrain bei, den wir dann gemeinsam sagen. Die Schüler_innen fanden das Lied überragend! (Mir wurde erzählt, dass bereits am Nachmittag ein Schüler das Lied irgendwie auf sein Handy geladen hatte und es dann per Bluetooth in der Klasse rumging.) Danach erzählte ich ihnen etwas von der deutschen Art, Weihnachten und Silvester zu feiern. Am Ende blieb eine halbe Stunde für Fragen zu Deutschland. Sie stellten viele Fragen zu unterschiedlichsten Themen und dann waren die zwei Stunden plötzlich schon rum. Wir hätten noch ewig weiterreden können und keine_r hatte nach einer Pause verlangt. Es war einfach großartig. Sicherlich mein bisheriges Highlight hier in Burkina! Paul beglückwünschte mich danach und sagte, es sei „formidable“ gewesen. Er hätte niemals gedacht, dass es so gut wird. Diese zwei Stunden waren einfach ein tolles Gefühl und ich werde sie so schnell nicht mehr vergessen. Die Welt ist klein und wir sind groß. Gibt es ein passenderes Motto?

Die Abi-Klasse im Lycée Municipal und ich

Nachdem wir das Gymnasium verlassen hatten, fuhren wir nach Gourgou an die dortige Grunschule. Zunächst redeten wir mit dem Schulleiter, dann guckten wir uns den neu angelegten Schulgarten an. Danach ging es zurück nach Tenkodogo.

Nachmittags war ich dann wieder in der Schule St. Vincent de Paul, diesmal in der CM2, also der sechsten Klasse. Die Kinder hier sind auf einem sehr guten Niveau und es war erstaunlich, wie gut der Lehrer 65 Schüler_innen im Griff hatte. Kurz vor 17 Uhr ist der Lehrer dann gegangen, weil er irgendwo hin musste und ich war plötzlich alleine mit den Schüler_innen. 65 gegen einen, das war unfair.😉 Ich versuchte ihre Fragen zu beantworten und ihnen etwas Deutsch beizubringen, aber wurde belagert und alle schrien durcheinander. Zum Glück will ich nie Lehrer werden. :D

Grundschule von Goursampa. Rechts neben der Fahne will
unser Verein eine Schulerweiterung bauen.

Nachdem ich abends mit Paul essen war und wir uns nochmal froh über diesen Tag ausgetauscht hatten, hörte ich abends die Eintracht (und schon wieder ungeschlagen SGE!) im Internetradio und fiel müde und zufrieden ins Bett.

Samstag, 10. Dezember: Endlich wieder ein freier Tag! Ich war den ganzen Tag zuhause, habe gelesen und Bundesliga gehört – Erholung pur. Abends habe ich es endlich zum ersten Mal in die Messe hier in Tenkodogo geschafft, die mir sehr gut gefallen hat! Langsam werde ich etwas neidisch, wenn ich mir unsere Gottesdienste in Deutschland angucke.

Ortseingang Gourgou
Sonntag, 11. Dezember: Nationalfeiertag in Burkina! 1960 erlangte das Land an diesem Tag die Unabhängigkeit von Frankreich. Aus diesem Grund bin ich morgens um 6.30 Uhr mit Sinaré und Bayala von OCADES nach Ouargaye, einer Stadt 50 Kilometer von Tenkodogo, gefahren. Dort fanden die Feierlichkeiten der Region Centre-Est, der auch Tenkodogo angehört, statt. Zunächst hielt der Gouverneur eine Rede (klassische langweilige Feiertagsrede), dann wurden verdiente Burkinabé ausgezeichnet. Unter anderem auch Issa Naré, mit dem ich am Dienstag noch gesprochen hatte. Danach fand eine Parade des burkinischen Militärs statt, aber auch Schulen und Organisationen aus Ouargaye liefen mit. Das ganz erinnerte ein bisschen an einen Fassenachts-Umzug, nur leider wurden keine Süßigkeiten geworfen. Nachmittags waren wir dann wieder zurück und ich nutzte den Rest des Tages, um mich auszuruhen.

Uuund Marsch: Nationalfeiertag in Ouargaye

Fazit zur Woche: Was eine volle Woche! Das Praktikum bei St. Vincent de Paul war insgesamt wohl etwas zu kurz. Dennoch war es ein toller Einblick in das Bildungssystem Burkinas und da ich nicht Lehrer werden will, ist die Kürze so auch in Ordnung. Ich konnte viel mithelfen und es hat Spaß gemacht, mich als Lehrer zu beweisen. Schade war, dass ich während der Prüfungswoche des ersten Trimesters im Schuljahr da war und deshalb auch hin und wieder nur rumsaß. Schwierig für die Schüler_innen ist sicherlich, dass der Unterricht auf Französisch gehalten wird, obwohl Mooré ihre Muttersprache ist. Da kann man in Mitteleuropa schon froh sein, dass das bei uns anders ist. Die Ausflüge nach Goursampa, Ouargaye und Gourgou, aber insbesondere auch der Workshop am Gymnasium machten diese Woche insgesamt zu einer unvergesslichen Zeit. Danke, dass ich das erleben durfte!

Jetzt ist es noch eine Woche, bis ich in den Flieger zurück nach Deutschland steige. Ich freue mich auf daheim, werde mein Leben hier aber sicher auch vermissen. Ich freue mich, euch alle wiederzusehen!

Bis dahin eine schöne vorweihnachtliche Zeit
euer Jonas